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Die Vermenschlichung des Hundes

Viele beklagen heute, dass Hunde vermenschlicht würden. Früher wäre ein Hund noch wie ein Hund behandelt worden, also artgerecht.

 

Was sie oft damit meinen ist, dass ein Hund früher draußen oder im Zwinger lebte, Essenreste zugeschmissen bekam und Haus und Hof bewachen sollte oder mit auf die Jagd genommen wurde. Er bekam kein Mäntelchen im Winter oder bei Regen oder einfach weil es schick war, er wurde nicht herumgetragen, gebürstet oder gestreichelt, er durfte nicht auf dem Sofa oder gar im Bett liegen, bekam keinen Pool, Spielzeug oder durfte Teller ablecken, wurde nicht zum Frisör geschickt und mit Leckerlis und Biofutter vollgestopft, ging nicht zur Physio, Hundeschule oder zum Psychologen.

 

Ich persönlich finde auch, dass Hunde vermenschlicht werden, allerdings aus keinem der oben aufgezählten Gründe.

 

Gleicher Lebensraum

Hunde haben sich im Laufe der Jahrtausende dem Menschen angepasst und der Mensch hat durch gezielte Züchtung alles gegeben, den Hund so abhängig von sich zu machen, dass er ohne ihn und seine Nähe als Art nicht überleben kann. Insofern gehört es zur „artgerechten“ Entwicklung des Hundes dazu, heute eng mit dem Menschen verbandelt zu sein und in seinem Haus zu leben. Die Industrialisierung hat den Hund zudem als Arbeitsgerät überflüssig gemacht, so dass die Funktion des Arbeitshundes durch den Familienhund abgelöst wurde. Wir halten unsere Hunde, weil wir Freude an ihnen haben, im Regelfall nicht jedoch weil sie für uns arbeiten sollen.

Wir gehen dadurch eine viel emotionalere Bindung mit ihnen ein, weshalb es uns auch wichtig ist, dass es ihnen gut geht. Sie sind nicht einfach ersetzbar geworden, sie gelten als Familienmitglieder. Wir erkennen in ihnen individuelle, fühlende Lebewesen mit Bedürfnissen, Vorlieben und Abneigungen. Also sorgen wir auch dafür, dass sie nicht frieren oder schwitzen müssen, dass sie körperlich und geistig ausgelastet werden und sie ein glückliches Hundeleben führen. Wir teilen unseren Lebensraum mit ihnen und so ist unser Lebensraum heute für Hunde auch "artgerecht".

So wie wir nicht mehr in Höhlen leben, lebt der Hund heute nicht mehr vor der Tür, sondern dahinter.

 

Der Begriff „Vermenschlichung“ wird meiner Meinung nach oft mit „moralischer Verantwortung gegenüber einem abhängigen Schutzbefohlenen“ verwechselt.

 

Trotzdem vermenschlichen wir unseren Hund sehr häufig - auf einer ganz anderen Ebene.

 

Menschliche Attribute
Wir verlangen von ihm, Mensch zu sein!

Er soll unsere Sprache verstehen, möglichst intuitiv. Er soll alles das gern machen, was wir gerne machen, wie zum Beispiel uns in die volle Stadt zu begleiten oder ins laute Restaurant. Er soll unauffällig und leise sein und sich mit allen gut vertragen, er soll bei Fuß gehen und seine Welt ignorieren, er soll uns anschauen, uns "lieben" und sich stark an uns "binden".

 

Und wir vermenschlichen ihn auch, weil wir von ihm glauben, menschlich zu sein!

So unterstellen wir ihm sehr häufig, dass er „Chef“ sein will, weil er oft auf dem Sofa liegt, als erster durch die Tür rennt oder sein Spieli verteidigt. Wir behaupten, er würde uns „kontrollieren“, weil er uns überall hin folgt. Wir sagen, er wäre mal wieder „stur“ oder wolle uns „ärgern“, weil er nicht zurückgerannt kommt, wenn wir ihn rufen, sondern lieber weiter nach Mäusen buddelt oder mit den Kumpels spielt. Wir halten ihn für „frech“ und „respektlos“, wenn er an uns hoch springt und für „eigensinnig“ wenn er sich nicht setzt, obwohl wir es - vielleicht nicht unbedingt genügend trainiert - aber es auf jeden Fall befohlen haben.

Für mich bedeutet Vermenschlichung, wenn wir dem Hund also menschliche Begehrlichkeiten und Charaktereigenschaften zuordnen - und es oft nicht einmal merken. Es kommt uns ohne zu zögern und ohne nachzudenken über die Lippen. Dominanz, hierarchisches Denken, Führungsanspruch, Kontrollsucht, Eigensinnigkeit, Faulheit, Hinterlist, Boshaftigkeit, Absicht, Dummheit – die Liste der scheinbar hundlichen, doch eigentlich ziemlich menschlichen Eigenschaften ist lang.


Wir tun das, weil wir Menschen sind und nichts anderes kennen. Wir vergleichen das Verhalten des Hundes mit uns bekanntem, also menschlichem Verhalten und ziehen daraus unsere Schlüsse. Wir gucken durch die Menschenbrille.


Dabei wäre es für uns manchmal sehr viel einfacher, würden wir unsere menschlichen Attribute bei der Beschreibung des Hundes über Bord schmeißen. Eine vorurteilsfreiere Sicht auf die Dinge könnte unser Leben ganz schön vereinfachen.


Der Blick aus Hundesicht

Was wäre nämlich zum Beispiel, wenn der Hund uns gar nicht „kontrollieren“ will, sondern über die Domestikation dazu gezüchtet wurde, sich eng an den Menschen zu binden und eine Trennung von ihm – die nur kurz sein mag – unangenehme Gefühle weckt? Was ihn wiederum regelmäßig dazu bringt – obwohl er zum Beispiel total müde ist - sein natürliches Ruhebedürfnis zu ignorieren, nur um uns nah zu sein. 


Was wäre, wenn der Hund auf dem Sofa liegt, nicht etwa um uns zu signalisieren, dass er der „Chef“ sein möchte, sondern weil es dort so sackbequem, kuschelig und warm ist? Ebenso wie er gern auf dem Steinboden liegt, nicht weil er sich uns dann doch plötzlich unterwirft, sondern weil der im Sommer so schön kühlt?


Was wäre, wenn der Hund gar nicht „stur“, „eigensinnig“ oder „widerspenstig“ wäre und sich nur deswegen nicht hinsetzt, obwohl wir es verlangt haben, weil die Wiese unter ihm nass ist und er einen nassen Hintern nicht leider kann, der Asphalt zu heiß, die Aufregung zu groß ist, der Rücken schmerzt oder er es nie wirklich gelernt hat?


Was wäre, wenn der Hund uns anspringt, nicht, weil er sich „respektlos“ benimmt, sondern weil das seine Art ist Freude auszudrücken und wir ihm nicht konsequent beigebracht haben, unten zu bleiben?


Was wäre, wenn Hunde gar nicht – wie wir Menschen - führen wollen, sondern einfach nur abwägen, welches Verhalten ihnen Bedürfnisbefriedigung, Komfort, Sozialkontakt oder Sicherheit bringt?


Würde uns dieser Denkansatz nicht auf einen Schlag viel weiterbringen, da er ja gleich einen Lösungsansatz mitliefert, statt mit scheinbarer Sturheit und Eigenwilligkeit zu hadern?


Ein neuer Ansatz

Eigentlich sollte uns eine einzige Frage beschäftigen: Stört uns das Verhalten des Hundes oder können wir damit leben?
Wenn es uns stört, trainieren wir mit dem Hund und bringen ihm bei, das Verhalten nicht mehr zu zeigen.
Stört es uns nicht, dann latscht er eben mit aufs Klo und fühlt sich dort wohl, selbst wenn’s stinkt. Würde es ihn übrigens stören, dann würde er gehen. So „egoistisch“ sind unsere „undankbaren“ Hunde! Oder vielleicht einfach nur bedürfnisorientiert.


Natürlich gibt es heute viele wissenschaftliche Studien, die untersucht und herausgefunden haben, wie unsere Haushunde denken, fühlen und leben und die auch beweisen, dass Hunden diese menschlichen Attribute fehlen – eben weil sie Hunde sind und ihre Evolution ganz anders verlaufen ist, als die des (hierarchisch strukturierten) Menschen.


Glücklicherweise muss man diese Studien aber nicht kennen, um einen Hund besser zu verstehen.


Wir sollten einfach ab und an mal versuchen, die Menschenbrille abzulegen. Die Welt eines Hundes sieht dann plötzlich gar nicht mehr so bedrohlich für uns aus.